Bierkultur – wie viel Traditionalismus darf sein?

Sprichwörtlich ist der Prophet im eigenen Land ja nichts wert, aber wie sieht das mit traditionellen österreichischen und deutschen Bieren aus? Kann man gleichzeitig Craft Bier und “normales” Bier mögen?

Einer der größten Bier-Aficionados die ich kenne wurde neulich im Internet in eine Diskussion verwickelt. Und wie das so ist mit Diskussionen im Internet, gibt es keine Sieger sondern nur Verlierer und irgendwie hat entsteht danach das dringende Bedürfnis zu duschen. Kurz zusammengefasst ging es um Folgendes: Darf er Ottakringer (oder Augustiner, Krombacher, Gösser…) trinken, obwohl er (ANGEBLICH!!11) gerne Craft Bier trinkt?

Nun hatte mein Kollege argumentiert, dass er genauso gerne Gamma Brewing IPAs trinkt wie jeder beliebige Bier-Hipster aus dem 7. Wiener Gemeindebezirk mit Vollbart, allerdings habe die deutsche und österreichische Braukultur eine lange Tradition und einen hohen Qualitätsstandard. Eine Argumentation die besonders bei militanten Craft Bier Trinker*innen gar nicht gut ankommt!

Mich erinnerte das Ganze an die sogenannten binäre Oppositionen. Die nordamerikanische Philosophin Judith Butler und ihre Kolleg*innen verstehen darunter in etwa das Folgende: Die Reduktion einer komplexen Realität auf zwei sich gegenüberliegende, sich gegenseitig ausschließende Pole. Ob es sich nun um Gender, politische Orientierung oder eben um “die Bierfrage” handelt. Nur: so einfach und binär ist die Realität in den seltensten Fällen. Die meisten komplexeren Fragen die sich Menschen in ihrem Leben selber stellen müssen spielen sich (leider? zum Glück?) eben doch auf einer zumindest analogen Skala ab. Jede dieser binären Oppositionen ist aufs Strengste zu hinterfragen und wenn euch jemand einreden möchte, dass die Medaille exakt zwei Seiten hat, dann will diese Person meistens nicht, dass ihr zu viel drüber nachdenkt was eigentlich gerade passiert.

In der Literaturwissenschaft gibt es darüber hinaus den Begriff der Interkulturellen Hermeneutik. Einfach gesagt bilden sich Kulturkreise das Bild von sich selber auch indem sie sich andere Kulturen anschauen und einen Unterschied feststellen. Übersetzt auf den Mikrokosmos des Biertrinkens heißt das: selbst wenn ich nicht weiß, was mich als Craft Bier Trinker ausmacht, weiß ich was ich ganz sicher nicht bin – jemand der “normales” Bier trinkt.

Problematisch! Und das muss nicht so sein. Von den Craft Bier Trinker*innen erwarte ich da ein bisschen mehr Selbstreflexion. Dass Großonkel Sepp aus dem Oberammergau nicht einsehen will, warum sein Bier jetzt nach Aromahopfen schmecken soll kann vermutlich niemand ändern. Wir als “educated connaisseurs” sollten aber eine differenziertere Meinung besitzen.

Bevor jetzt wieder die wütenden Emails kommen: als Konsument*innen treffen wir alle mit jedem Kauf eine Entscheidung. Das sollten wohlüberlegte Entscheidungen sein. Ich möchte nicht, dass das gesamte Biersortiment von zwei Konzernen gestellt wird. Ich möchte Vielfalt, Brauer*innen die experimentierfreudig sind und immer neue Biersorten und -geschmäcker entwerfen. Deswegen kaufe ich fast ausschließlich Craft Bier. Fast ausschließlich. Weil hin und wieder ein unaufgeregtes, hochqualitatives Lagerbier auch einfach gut ist.